Was ist Verhaltenstherapie

Was ist Verhaltenstherapie?

Die Verhaltenstherapie (VT) ist ein wissenschaftliches System der Psychologie, das die Beschreibung, Erklärung und Veränderung menschlichen Verhaltens umfasst. Sie nutzt dabei Erkenntnisse der psychologischen Grundlagenforschung.

Verhalten wird hier nicht nur als äußerlich beobachtbares Verhalten verstanden, sondern auch auf körperliche, gefühlsorientierte und gedankliche Aspekte der Person bezogen. Die wesentliche Grundannahme ist, dass Verhalten gelernt wird und damit auch ver-lernbar, also ver-änderbar ist.

Neben der Betrachtung des Verhaltens einer Person stehen ferner die Beachtung ihrer Umgebungsbedingungen (Wohnen, Arbeiten, Kontakte), ihrer Bewertungsmuster, der persönlichen Wahrnehmung, gelernter Verarbeitungsweisen, organischer Besonderheiten und der Lebensgeschichte, sowie der Bedingungen, die das problematische Verhalten aufrechterhalten.

Grundlagen der Verhaltenstherapie

Die Verhaltenstherapie gründet sich auf die sogenannten Lerntheorien, deren Ursprünge bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurückreichen. Es wurden Theorien entwickelt, die sich zunächst auf zwei Arten des Lernens bezogen: Die “klassische Konditionierung” (Signallernen) und die “operante” (instrumentelle) Konditionierung (Konsequenzenlernen). Neben diesen Konditionisierungsmodellen sollen zum umfassenderen Verständnis der Verhaltenstherapie noch zwei weitere theoretische Grundlagen kurz vorgestellt werden. Zum einen das “Kognitive Lernmodell”, zum anderen die “sozialpsychologischen Aspekte”.

  • Die klassische Konditionierung (Signallernen)
    Sie beruht auf dem russischen Physiologen I. Pawlow (1849-1936), wurde von dem Amerikaner J.B. Watson auf den menschlichen Bereich übertragen und von J. Wolpe weitergeführt.
    Dieses Modell geht davon aus, dass spezifische Reize (unkonditionierte Stimuli = ucs) reflexhaft festangelegte interne Körperreaktionen auslöen (unkonditionierte Reaktion = ucr), z.B. Saugreflex des Säuglings. Wird nun ein ursprünglich neutraler Reiz (= ns) mit einem unkonditionierten Reiz gekoppelt, so tritt die unkonditionierte Reaktion, die ursprünglich folgte, auch auf dem neutralen Reiz auf. Wiederholt sich dieses gleichzeitige Auftreten von neutralem und konditioniertem Reiz häufig, so ist damit eine neue Reaktion erlernt worden.
  • Die instrumentelle Konditionierung (Konsequenzenlernen)
    Das auf Skinner zurückgehende Modell konzentriert sich auf die Konsequenzen (Folgen = C), die auf ein bestimmtes Verhalten (Reaktion = R) folgen.
    D.h.: Wenn auf ein Verhalten positive Konsequenzen folgen, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Verhalten erneut bzw. häufiger auftritt, recht hoch (positive Verstärkung). Wenn hingegen negative Konsequenzen folgen, wird das Verhalten künftig eher vermieden bzw. völlig gelöscht werden (negative Verstärkung). Der Mensch lernt also solches Verhalten zu zeigen, das ihm angenehmere Konsequenzen verspricht, und wird es künftig vorziehen.
  • Das kognitive Lernmodell
    Hier sind die Erwartungen, Wahrnehmungen, Erfahrungen, Vorzüge, Gedächtnis- und Informationsverarbeitungen, die ein Mensch gedanklich entwickelt (= Kognitionen), für das menschliche Verhalten entscheidend. Daneben werden gefühlsmäßige Zustände angenommen (= Emotionen). Gelernt wird Verhalten durch Einsicht und Erfahrung.
    Die Grundannahmen dieses Modells sind:

    • Der Mensch reagiert nicht auf das Wahrgenommene selbst, sondern er interpretiert es anhand seiner eigenen Vorerfahrungen, Einstellungen und Erwartungen.
    • Der Mensch lernt hauptsächlich durch Wissens- und Informationsvermittlung (Denken, Sprache).
    • Gedanken, Gefühle und Verhalten bedingen sich gegenseitig.
  • Sozialpsyhologische Aspekte
    Die Einzelperson ist immer in ein soziales Netzwerk (Familie, Freunde, Arbeitsplatz, Wohnumgebung) eingebunden. Sie ist Bedingungen und Einflüssen von außen ausgesetzt. Sie lebt in einem Umfeld, das sie prägt und zu dem sie in Abhängigkeiten, Beziehungen und Wechselwirkungen steht. Auch im therapeutischen Prozeß spielen die jeweiligen Umfeldbedingungen der beiden Beteiligten (Klient und Therapeut) eine Rolle. Ebenso gehen sie miteinander eine ganz besondere Beziehung ein.

Methoden der Verhaltenstherapie

Aus den theoretischen Grundlagen entwickelten sich Verfahren zur Veränderung problematischen Verhaltens und zur Bewältigung von psychischen Störungen. Es gibt eine Fülle verschiedener Methoden, die auch oft kombiniert angewandt werden. Hier werden nur vier, für Angstbetroffene bedeutsame Methoden kurz vorgestellt.

  • Systematische Desensibilisierung
    Sie wurde in den 50er Jahren von J. Wolpe entwickelt. Systematische Desensibilisierung bedeutet den schrittweisen Abbau von problematischen Angstreaktionen. D.h. man nähert sich der ursprünglich angstauslösenden Situation langsam. Es handelt sich dabei um einen Prozeß der Hemmung von Angst. Erreicht wird dies durch eine Aufschlüsselung der Angstreaktion in einzelne Angststufen (Angsthierarchie). Z.B.: Eine Spinnenphobie wird behoben durch die schrittweise Annäherung an eine lebende Spinne. Zuerst in gedanklicher Vorstellung (in sensu), später durch Bildmaterial u.ä. und schließlich durch die tatsächliche Begegnung (in vivo) mit einer Spinne. Um diesen Annäherungsversuch zu ermöglichen, muss im Moment des Angstreizes ein entspannender Reiz entgegengesetzt werden (gegenläufige Hemmung). Deshalb wird bei diesem Verfahren zuerst eine Angsthierarchie aufgebaut und parallel Entspannung geübt, bevor die einzelnen Angststufen nacheinander unter Entspannung durchschritten werden.
  • Konfrontationsverfahren
    “Konfrontationsverfahren” ist ein Sammelbegriff für verhaltenstherapeutische Methoden, deren Ziel der massive Kontakt mit der vorher gefürchteten Situation ist. Wesentlich dabei ist, dass beim Auftreten der Angstreaktion der Klient so lange in der Situation bleibt, bis die Angstreaktion abnimmt.
    Merkmale dieser Verfahren sind:

    • Auslösen der höchstmöglichen Angstreaktion.
    • Verlängerte Darbietung (das Erleben des Angsthöhepunktes bis zur Abnahme der Angstgefühle innerhalb der ursprünglich bedrohlichen Situation).
    • Verhinderung von Vermeidungsverhalten (keine Ablenkung, keine Fluchtmöglichkeit, keine Entspannungsverfahren).
      Beispiel: Der Klient bleibt solange in einem Kaufhaus, bis seine Erstickungsgefühle, Schweissausbrüche etc. nachlassen, ohne dass er Flucht- oder Ablenkungsmöglichkeiten hat. Erst im Zustand völliger Gewöhnung (deutliche Angstabnahme) an die Situation soll er diese verlassen (= Habituation).
  • Exposition, Reaktionsverhinderung und Reizüberflutung
    • Exposition heißt das Hineingehen in die gefürchtete Situation. Es gibt dabei verschiedene Möglichkeiten der Durchführung hinsichtlich der Dauer, der Art, der Darbietung, der Geschwindigkeit und der Anleitung durch den Therapeuten.
    • Reaktionsverhinderung umfasst verschiedene Möglichkeiten der Verhinderung von Vermeidungsverhalten.
    • Reizüberflutung (flooding) meint eine besonders rasche und intensive Konfrontation des Klienten mit der angstauslösenden Situation. D.h.: Gleich zu Beginn der Therapie wird die höchstmögliche Angststufe aufgesucht.
  • Kognitive Methoden
    Diese Verfahren basieren auf den kognitiven Lernmodellen. Verhalten wird veränderbar durch die Veränderung der Einstellungen, Erwartungen, Bewertungen, Selbstgespräche und anderer gedanklicher Prozesse, die das Problemverhalten auslösen und aufrechterhalten. Um dies zu erreichen, gibt es verschiedene Vorgehensweisen. Zwei Verfahrensbeispiele werden hier angedeutet.

    • Die Veränderung der Selbstverbalisation
      Die Selbstgespräche des Klienten sollen umgestaltet werden. Dazu müssen die Selbstgespräche aufgedeckt (laut formuliert) werden, die zu dem jeweiligen problematischen Verhalten führen. Ihr Inhalt und ihre Wirkung müssen überprüft und die alten Informationen durch neue ersetzt werden. Sagt sich jemand in einer angstauslösenden Situation z.B. “Ich kann das nicht. Ich versage immer!”, so werden diese Inhalte zunächst überprüft (“Stimmt das denn?”) und neue, für die Situation sinnvollere eingesetzt, wie z.B. “Was ist jetzt wichtig? Ich kann es schaffen!”.
    • Rational-emotive Therapie (RET)
      Ellis begründete bereits in den 50er Jahren die RET. Er nahm an, dass psychische Störungen von irrationalen Denkmustern (z.B. katastrophierende Gedanken) ausgelöst werden. Durch die RET werden dem Klienten, oft über Rollenspiele, verschiedene Möglichkeiten der Reaktion zugänglich. Er erfährt, dass nicht nur seine bisher angenommene Reaktionsweise in einer bestimmten Situation die für ihn einzig richtige sein muss, sondern dass er durchaus unter verschiedenen Reaktionsweisen wählen kann und dadurch besser zu seinem ursprünglich angestrebten Ziel gelangen kann.

Die Vorgehensweise in der verhaltenstherapeutischen Praxis

Um die Veränderung von Verhalten, Erleben und Gedanken bewirken und den Erfolg der Therapie überprüfen zu können, muss die verhaltenstherapeutische Arbeit in der Praxis bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Das jeweilige Problem wird in konkrete Verhaltensweisen aufgegliedert, an denen das Denken, Fühlen und Handeln der Person sichtbar und veränderbar wird. Dieses exakte therapeutische Vorgehen läßt sich in folgenden Teilschritten darstellen.

  1. Verhaltensanalyse (Problembestimmung):
    Welche Verhaltensweisen sollen verändert werden?
    (Art, Präzisierung, Häufigkeit, problematische Situationen, Umfeldbedingungen, familiäre berufliche Belastungen, begleitende Gedanken und Gefühle etc.)
    = Ist-Zustand
  2. Zielanalyse (Zielbestimmung)
    Welche Verhaltensweisen werden angestrebt?
    (erwünschte Änderungen, Änderungspunkte, Motivation, Voraussetzungen, Chancen, Bedingungen)
    = Soll-Zustand
  3. Therapieplanung (Änderungspunkte)
    Wie können die Ziele erreicht werden?
    (Einzelschritte, Ansatzpunkte, Machbarkeit, Planung)
    = Handlungsebene

Neben dieser klaren Struktur stellt das Vertrauen in den Therapeuten und das jeweilige Verfahren eine weitere wichtige Voraussetzung dar. Der Klient ist im therapeutischen Prozess aktiv mit eingebunden, d.h. er ist nicht nur “Objekt” der Behandlung, sondern entscheidender Mitgestalter seiner Therapie.

Verhaltenstherapie heute: Bedeutung, Stellenwert, Vergleich

Professor Dr. Reinecker (Universität Bamberg) zur Bedeutung dieser Therapieform: “Verhaltenstherapie ist inzwischen zu einem zentralen Kernbereich der Klinischen Psychologie geworden…” Viele haben dennoch das Vorurteil, VT sei “zu wenig und zu schmal”, um langfristig erfolgreich psychische Störungen zu beheben. Dagegen gibt es neben den vielen Therapierten auch genügend wissenschaftliche Studien, die den Erfolg belegen. Gerade der VT ist es gelungen, durch die wissenschaftliche Fundierung und exakte Vorgehensweise menschliches Verhalten und Erleben transparenter und beeinflußbarer zu machen. Betroffenen kann vermittelt werden, dass sie nicht einem Leiden passiv ausgeliefert sind, sondern dass sich ihre allgemeinen, oft diffusen Beschwerden konkret in einzelne Verhaltensweisen aufsplitten und damit gezielt verändern lassen. Dadurch werden ein schnelleres Herangehen an die Problematik und eine frühzeitigere Handlungsfähigkeit des Klienten als beispielsweise in der Psychoanalyse bewirkt, die sich oft erst jahrelang mit der Kindheitsgeschichte und Symbolauswertung von Verhalten beschäftigt.

Ziel der neueren verhaltenstherapeutischen Arbeit ist es, dem Klienten eine verbesserte Selbstkontrolle und Eigensteuerung (Selbstmanagement, Selbstregulation) zu vermitteln, die ihm ermöglicht, im Laufe eines Therapieprozesses ständig unabhängiger vom Therapeuten und schließlich generell eigenverantwortlicher mit seinen Problemen umzugehen. Besonders für Angst- und Zwangsbetroffene, die oft jahrelang unter Rückfällen und Therapieabhängigkeiten leiden, ist diese Entwicklung von großer Bedeutung.

Die Verhaltenstherapie in klinischer und ambulanter Anwendung

Viele niedergelassene Therapeuten arbeiten mit verhaltenstherapeutischen Methoden, wobei auch Mischformen u finden sind. Wer sich dafür interessiert, kann bei seiner Krankenkasse nach einer Liste von Verhaltenstherapeuten in seiner Umgebung fragen. Für diese ambulante Behandlungsform übernehmen meistens die Krankenkassen die Kosten.
Auch in manchen psychosomatischen Kliniken finden diese Verfahren Anwendung (z.B. Bad Dyrkheim, Prien/Chiemsee). Es gibt seit den 80er Jahren auch Therapiezentren, in denen die Konfrontationsverfahren bei Ängsten, Zwängen, Bulimie und Alkoholrückfälligkeit durchgeführt werden. Es sind die Einrichtungen der Christoph-Dornier-Stiftung, die in Münster, Marburg, Dresden und Braunschweig sowohl stationäre Therapien machen als auch Forschung betreiben und eng mit den örtlichen Universitäten zusammenarbeiten. Diese Häuser stehen nicht unter ärztlicher Leitung, sondern werden von Klinischen Psychologen geführt, weshalb die Übernahme der Kosten durch die Krankenkassen oft schwierig ist. Diese Tatsache sagt jedoch nichts über Qualität und Erfolg der Behandlungen.