Herzneurose

Die Herzphobie wird im amerikanischen Diagnoseschema seit 1980 als eine Form der Panikstörung verstanden (ähnlich wie das Hyperventilationssyndrom). Der englische Internist Hope beschrieb bereits 1832 unter der Bezeichnung “nervöses Herzklopfen” eine der Panikstörung ähnliche Symptomatik. Der Herzspezialist Stokes beschrieb 1855 die Symptomatik der Herzneurose bei einem Mann mittleren Alters:

“Er bekam öfter Anfälle von schneller und heftiger Herzbewegung; diese war jedoch weder unregelmäßig noch durch Unterbrechungen geprägt; dabei stellten sich heftige Angst im Herzen und Beklemmung ein, mit einem bedrückenden Gefühl des herannahenden Todes. Die Atmung war so beschleunigt und mühsam, und diese Anfälle kehrten so häufig und in so starkem Ausmaß wieder, dass der Kranke die Überzeugung gewann, er habe ein gefährliches Herz- und wahrscheinlich auch Schlagaderleiden. Seine Stimmung war gedrückt, und er erwartete nichts anderes, als dass er in einem dieser fürchterlichen Anfälle sterben würde. Die Dauer des Anfalles war unbestimmt; in der beschwerdefreien Zeit waren keine Symptome von einem Herzleiden vorhanden, Herzschlag und Töne waren ganz normal. Dieser Mann litt nicht an Einbildung; er war kräftig gebaut, hatte die Erde umsegelt und die Beschwerden der Reise ohne Nachteil ertragen.”

Die Symptomatik der Herzphobie wurde 1969 von Richter und Beckmann unter der Bezeichnung “Herzneurose” eingehend dargestellt und psychoanalytisch interpretiert. Es wird unterschieden zwischen einem A-Profil (offenes Ausleben der Herzphobie mit starker Regression und Abhängigkeit von der Familie) und einem B-Profil (kontraphobische Abwehr von Todesängsten durch Unabhängigkeitsstreben, Leistungsorientierung und Wagemut). Eine Herzphobie wird oft durch den Tod einer wichtigen Bezugsperson ausgelöst. Patienten mit Herzphobie haben ein stärkeres Angsterleben sowie häufiger eine Agoraphobie und Sozialphobie als Menschen ohne Herzphobie.

Eine Herzphobie besteht aus folgenden Merkmalen

  • Anfallsartig auftretende Symptome wie bei einer Panikattacke, jedoch stark herz-bezogen erlebt: Herzrasen (120-160 Herzschläge pro Minute), unregelmäßiger Herzschlag (Extrasystolen), Blutdrucksteigerung, Brennen und Hitzegefühl an der Herzspitze, Stiche, Schmerzen oder Ziehen im (linken) Brustbereich.
  • Andere körperliche Symptome: Schwitzen, Hitze- oder Kältegefühle, Atemnot, Beklemmungs- und Erstickungsgefühle, Schwindelgefühle, Körpermissempfindungen, Übelkeit.
  • Panikartiges Todes- und Vernichtungsgefühl, bedingt durch die Symptome, die als Anzeichen einer Herzerkrankung interpretiert werden.
  • Ständige ängstliche Konzentration auf das Herz aus Sorge, an einer bisher nicht erkannten Herzerkrankung zu leiden. Negative Befunde bei umfangreichen Untersuchungen und fachgerechte Aufklärung durch den Arzt können im Extremfall die phobische Wahrnehmungseinengung auf das Herz nicht verhindern.
  • Vertrauensverlust in die automatische Herzfunktion, so dass übertriebene Kontrollen wie häufiges Pulsfühlen und Pulszählen sowie Blutdruckmessen erfolgen. Das ständige Vergewissern der Herzfunktion führt zu einem abnormen Herzbewusstsein und verstärkt die Herzangst. Allein die angespannte, erhöhte Aufmerksamkeit auf die Herztätigkeit bewirkt bereits eine leichte Herzfrequenzsteigerung.
  • Ausgeprägte Schonhaltung, um das Herz nicht zu sehr zu belasten, was ein starkes Vermeidungsverhalten zur Folge hat. Die Betroffenen fürchten bereits alltägliche Belastungen wie Stiegensteigen, Gartenarbeit, sportliche Betätigung, Geschlechtsverkehr mit der Partnerin. Frauen mit Kinderwunsch bekommen plötzlich Angst vor einer Schwangerschaft, weil dadurch die gefürchteten Symptome provoziert werden könnten. Herzphobiker schonen sich mehr, als selbst Patienten nach einem Herzinfarkt zur Schonung geraten wird.
  • Hypochondrische Ängste, die dazu führen, dass viele an sich normale körperliche Zustände als Vorzeichen eines möglichen Herzinfarkts interpretiert werden. Charakteristisch sind vermehrte Pulskontrollen, die beruhigen sollen, tatsächlich jedoch durch die ständige Körperzuwendung neue Ängste schüren.
  • Ständiges Kreisen um medizinische Sicherungsmaßnahmen (Aufenthalt in der Nähe eines Krankenhauses oder von Ärzten, Informationssammlung über ärztliche Notdienstregelungen, Mitnahme wichtiger Telefonnummern für den Notfall).
  • Einbeziehung der Familienmitglieder in die Herzängste und die krankheitsbezogene Lebensweise, sodass ein sanatoriumsartiges Familienklima entsteht. Wenn sich die Familienmitglieder den auf Vermeidung, Schonung und Rückzug bedachten Lebensstil aufzwingen lassen, verstärken sie dadurch die Krankheitsfixierung des Betroffenen.
  • Anklammerung an die engsten Familienmitglieder, vor allem an den Partner, der oft Sicherheit und unbedingte Geborgenheit in einem Leben vermitteln soll, das nicht selten geprägt ist von frühen Verlusten (Verlust eines Elternteils durch Tod oder Scheidung, Ehescheidung usw.). Herzphobiker neigen zu symbiotischen Beziehungsmustern und reagieren auf jede Verunsicherung in der Partnerbeziehung mit extremen Ängsten. Beruhigung bringt nur die ständige Verfügbarkeit des Partners.
  • Nach längerer Herzangstsymptomatik entwickeln sich sekundär oft andere Störungen: eine Depression, andere phobische Symptome (Agoraphobie, Sozialphobie), andere neurotische oder psychosomatische Störungen.

Während die Ängste bei organischen Herzerkrankungen typischerweise nicht offen, sondern verschlüsselt oder durch depressive Zustände verdeckt sind, weisen die neurotischen Herzängste einen stark appellativen, mitteilungsbedürftigen und hilfesuchenden Charakter auf. Herzphobiker fühlen sich körperlich schwer krank, nicht dagegen psychisch krank. Sie finden sich daher viel häufiger in den Praxen von Internisten als von Psychiatern und Psychotherapeuten. Die Diagnose einer Panikstörung vom Typ einer Herzphobie ist therapeutisch insofern bedeutsam, als diese aufgrund der Herzfixierung oft schwieriger zu behandeln ist als eine typische Panikstörung.

Je nach Art und Intensität der herzbezogenen Ängste können drei Gruppen von Herzphobikern unterschieden werden

  • Herztod-Phobiker, die starke panikartige Angstanfälle erleben.
  • Herztod-Hypochonder, die keine Angstdurchbrüche erleben, sondern von der subjektiven Gewissheit geplagt sind, einen Herztod zu erleiden.
  • Herz-Hypochonder, deren Ängste in Sorgen und Befürchtungen um das Herz bestehen.

Herzphobische und hypochondrische Patienten sind relativ leicht voneinander zu unterscheiden. Herzphobiker werden von ihren körperbezogenen Ängsten überflutet. Hypochonder haben zwar unkorrigierbare Befürchtungen und Überzeugungen, krank zu sein, erleben jedoch keine panikartigen Ängste um ihr Leben. Ihre Ängste sind jedoch so beständig, dass sie durch die Anwesenheit von Vertrauenspersonen nicht wie bei Herzphobikern gemildert werden.

Menschen mit einer Herzphobie stellen eine relativ große Patientengruppe dar

  • 10-15% aller Patienten einer Allgemeinpraxis klagen über funktionelle Herzbeschwerden.
    Bei 20-25% von 16332 Patienten der Deutschen Klinik für Diagnostik in Wiesbaden ergab sich von der Symptomatik her der Verdacht auf eine Herzneurose.
  • 10,7% von 552 Patienten, die mit der Verdachtsdiagnose “Herzinfarkt” auf eine Intensivstation aufgenommen wurden, hatten eine Herzphobie.
  • Bei 4% von 7150 Notaufnahme-Patienten einer Berliner Klinik wurde eine Herzphobie diagnostiziert.
  • 20-30% der stationären Aufnahmen in internistischen Abteilungen erfolgen wegen funktioneller, psychosomatischer oder psychiatrischer Störungen. Viele dieser Patienten leiden unter somatisierten Ängsten (z.B. Herzphobie, Hyperventilationssyndrom) oder unter einer somatisierten Depression.
  • Nach amerikanischen Studien sind bis zu 50% der Patienten mit Brustschmerzen und negativem Koronarangiogramm Patienten mit einer Panikstörung (“Herztod-Phobie”).