Wie eine Agoraphobie entsteht

Eine Agoraphobie entsteht meist nach folgendem Schema

  1. An einem bestimmten vorher neutralen Ort (z.B. Supermarkt, Kino, Restaurant, Veranstaltungssaal, Bus, Autobahn, Wohnung) tritt eine erste Panikattacke oder eine panikähnliche Reaktion (z.B. Übelkeit, Schwindel, Harn- oder Stuhldrang) auf. Dem vorausgegangen ist meistens eine längere psychosoziale Belastungssituation, die mit dem Ort der Panikattacke nichts zu tun hat.
  2. Die panische Reaktionsbereitschaft nimmt zu – vor allem durch die Erfahrung, dass durch das plötzliche Verlassen des Ortes die Symptomatik sofort verschwindet und die Erkenntnis, dass das Meiden des Ortes eine neuerliche Panikattacke verhindert.
  3. Wenn keine sinnvollen Bewältigungsstrategien zur Verfügung stehen, werden ab nun auch ähnliche Situationen „zur Sicherheit“ gemieden – statt etwa vorher nur der Bus werden nun alle öffentlichen Verkehrsmittel als gefährlich angesehen. Man spricht von einer zunehmenden Generalisierung der gefürchteten Orte – vor allem, wenn tatsächlich auch anderswo eine Panikattacke aufgetreten ist.
  4. So genannte „Sicherheitssignale“ (z.B. Vertrauenspersonen, Medikamente, Alkohol, Handy) werden zur einzigen Garantie gegen agoraphobische Ängste. Sie schwächen das Vertrauen in die eigenen Handlungsmöglichkeiten immer mehr, der Bewegungsradius wird enger und enger, bis hin zur massiven Beeinträchtigung der sozialen und beruflichen Funktionsfähigkeit und der völligen Abhängigkeit von bestimmten Bezugspersonen.

Agoraphobiker fürchten sich primär nicht vor bestimmten Orten, Situationen oder Menschenansammlungen, sondern davor, was ihnen dort passieren könnte, wenn sie allein und schutzlos sind, das heißt ohne ein Sicherheitssignal (vertraute Person, Handy, Medikament, Fluchtweg, etwas zum Anhalten u.a.).

Eine Agoraphobie zu haben bedeutet, ständig auf der Suche nach Sicherheit oder Sicherheitssignalen zu sein, wenn man sich potentiell bedrohlichen Situationen mental oder real aussetzen soll. Das agoraphobische Vermeidungsverhalten spiegelt ein gestörtes Gleichgewicht zwischen subjektiv empfundener Gefahr und Sicherheit wider.

Individuelle Lebenssituation

Dies ist oft nur verständlich durch die Lebensgeschichte der Betroffenen. Vor dem Auftreten der Agoraphobie findet man häufig sehr einschneidende Ereignisse: Tod oder schwere Erkrankung von Verwandten (Eltern, Partner, Kinder) oder Freunden, eigene schwere Krankheit mit oft unsicherem Ausgang, Angst vor Tod, Behinderung oder Krankheit, Ehekrise, Scheidung, Fehlgeburt, Gefährdung des Arbeitsplatzes, Kündigung, Konkurs, finanzielle Notlage, Umzug mit sozialer Isolierung, öffentliche Kränkung, bewusste physische oder psychische Bedrohung durch jemand, von dem man abhängig ist, Sinnkrise, Enttäuschung durch einen Bekannten usw.

Die Probleme von Menschen mit einer Agoraphobie dürfen nicht reduziert werden auf eine Furcht vor agoraphobischen Situationen. Die Angst ohnmächtig zu werden, physisch zusammenzubrechen, psychisch aus dem Tief nicht mehr herauszukommen, geistig durchzudrehen, keinen Ausweg mehr zu wissen, buchstäblich „in der Falle zu sitzen“ u.a. stellt die Reaktion auf reale und nicht nur auf befürchtete Umstände dar. Traumatisierende Erlebnisse aus früherer Zeit (z.B. Scheidung der Eltern) werden in neuen Situationen (z.B. Krise der eigenen Ehe) immer wieder gefürchtet.

Gefühl der Hilflosigkeit

Konkrete existentielle Verwundungen haben dazu geführt, dass das frühere Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten verloren gegangen ist, so dass man sich allen weiteren potentiellen Bedrohungen der eigenen Person schutzlos ausgeliefert fühlt. Allein gelassen zu sein – eben auch in agoraphobischen Situationen – aktiviert die fundamentale Erfahrung von Hilflosigkeit, Ausgeliefert-Sein und Geborgenheitsverlust, so dass Sicherheitssignale wie eine Person mit unbedingtem Vertrauen oder sonstige Hilfen zentrale Bedeutung gewinnen. Die wesentlichsten Therapieziele sind die Verbesserung des Sicherheitsgefühls und der Aufbau von Kompetenz.